Das Ei des Kolumbus

«Auch in dieser Nacht fuhr er nicht auf seinem Kurs, sondern segelte mit wechselnden Winden in südlicher und süd-südöstlicher Richtung, einmal so und ein andermal so, und er fuhr auch nach Nordost Ostnordost, und geradeso ging es den ganzen Tag.» Christoph Columbus, Schiffstagebuch, 28.2.1482

«Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein grosses, sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt sondern als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.» Michel Foucault

Das Ei des Kolumbus
Das Ei des Kolumbus

Ausstellung Medienkunst im Neuen Berliner Kunstverein, Berlin 1988

Das Ei des Kolumbus (1991)

Medienkunst schafft andere Erlebnisräume als die, die wir kennen. Im Raum der materiellen Welt sind wir Teil eines Ensembles von Objekten, darin bewegen wir uns oder werden darin bewegt. Die Vorstellungen von solcher Bewegung sind durch das Erlebnis der Objektwelt erzeugt und werden durch sie verändert und korrigiert. Aber schon in dieser Welt kann es dem Reisenden passieren, dass er, blickt er aus dem Fenster des fahrenden Zugs, nicht mehr erkennt, ob sich das eigene Eisenbahnabteil oder der Zug auf der anderen Seite in Bewegung setzt. Fehlt der Hintergrund, dessen Unbeweglichkeit klar zu erkennen ist, ist keine Folie vorhanden, auf der die Bewegungen gedeutet werden können. Betrachter von medialen Ereignissen sind keine im Raum handelnden oder im Raum bewegten Wesen mehr. Die fixen Pläne und Landkarten, auf denen sie ihre wechselnden Positionen verzeichnen können, sind ihnen abhanden gekommen. Sie müssen ohne fertige Karten reisen wie Cook, Perouse, Vancouver, Mackenzie, Bering, Columbus. Nur die perfekte kartografische Erfassung des Raums macht ihn homogen und füllt ihn mit Orten. Um die Geschichte des Raums, der nicht homogen und leer ist, zu fassen, gebraucht Michel Foucault den Begriff der Heterotopie. Dieser Raum ist aufgeladen mit Qualitäten und bevölkert von Phantasmen. Eine Bestimmung, die sich für die Beschreibung des Raumes der Medienkunst eignet. Dieser immaterielle Raum hat die Geschichte seiner Entdeckung und Erforschung noch vor sich: sein Australien, Ozeanien, Indien, sein Süd- und sein Nordpol müssen noch entdeckt werden. Seine Eingeborenen, seine Indianer, Tataren und Pygmäen noch beschrieben werden. Wie das Meer seine äussere, sichtbare Bewegung, wie es Wellen und Stürme hat, so hat es auch Bewegung in seinem Inneren, die Strömungen, die wechselnde Tiefen durchlaufen, warme und kalte Gegenströme. Auch die medialen Meere der technisch hergestellten Bilder, in denen wir manchmal zu ertrinken scheinen, müssen wohl nicht nur die glatte, spiegelnde, wellenlose Oberfläche der Monitore haben. Die Heterotopie machte es möglich, dass an ein und demselben Ort verschiedene Räume zusammenfallen können, solche die unvereinbar miteinander sind, materielle und immaterielle. Die Frage nach der immateriellen Welt stellt die Frage nach den Ausmassen, in denen sie sich entfaltet und nach den konstitutiven Akten, die sie entstehen lässt, denn die Längen- und Breitengrade des materiellen Raums treffen nicht mehr zu.

Heterotopien sind an zeitliche Zäsuren gekoppelt. Die Heterotopie funktioniert, wenn die hergebrachten Zeitabläufe durchbrochen werden. Foucault nennt die Museen, Bibliotheken und Archive, es sind die Orte, die die Zeit akkumulieren, an denen die Zeit nicht aufhört, und die so zu Orten der individuellen Wahl werden. Die Möglichkeit dieser Wahl entsteht, weil mit der herkömmlichen Zeit gebrochen wird und die Utopie eines Ortes aller Zeiten gebildet wird. Ein Universum des Diskontinuierlichen findet seine Utopie an einem Ort. Die mediale Verwüstung des Raumes und der Zeit, die technisch kolonialisiert werden, lassen eine alte künstlerische Utopie, die Vorstellung, die Betrachter im Bild «spazieren» zu lassen und ihn zur selbstvergessenen Auflösung im Bild zu zwingen, Realität werden. Mit der Auflösung der Gegenstände im Bild sind auch die Betrachter verschwunden. Die Utopie des Medialen, die eine Medienkunst realisieren könnte, wäre die Rekonstruktion der Betrachter im Raum. 

Als die Heterotopie schlechthin bezeichnet.Foucault das Schiff. «In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter». Das Schiff ist ein Stück Raum, der aus sich selber lebt, der geschlossen und gleichzeitig dem unendlichen Meer ausgeliefert ist, von Hafen zu Hafen, von Ladung zu Ladung, von Bordell zu Bordell fährt. Das lmaginationspotential ist damit verknüpft, der Gedanke der Flucht, nur um der Flucht willen. Die Flucht vor der immerwährenden Wiederkehr ßinförmiger Reize wie die immer gleiche Bewegung der Wellen. Es lässt sich nur vor dem fliehen, was wiederkommt. Die Medienkünstler in der mediatisierten Welt haben etwas von dem, was einmal den Seefahrern zukam. Sie schaffen einen Raum im Raum, alle, die darin platznehmen, um sich an der Expedition zu beteiligen, wissen ebensowenig wie die Argonauten, ob ihre Reise erfolgreich sein wird. Sie beobachten die Stürme von keinen anmutigen und beschaulichen Orten aus, und sie wissen, dass im grossen und ganzen weniger das Meer als das Festland die Dinge grauenvoll macht. Die Reise, auf die sie sich begeben, hat aber dennoch nichts Betrübendes, sie werden der bizarren und wechselnden Winde gewahr, wie sie sonst kaum jemand bemerkt. Sie sind an eine unvollendete Arbeit gefesselt und von den seltsamen Reizen der Zwischenreiche getrieben. 

Die Autoren dieses Beitrages in Wort und Bild (Heine, Born, Lingnau) gehören zur Besatzung eines Schiffes mit Namen bildo. bildo war eine experimentelle Medienkunstakademie in Berlin. 

Ausstellung Medienkunst im Neuen Berliner Kunstverein, Berlin 1988

Ein Bild-Text-Projekt

 veröffentlicht im Buch «F + F Zürich, das offene Kunststudium». 1991 Benteli Verlag, Bern.